- Kulturtransfer
- Kulturtransfer,Begriff, der, in älteren Zusammenhängen auch Kulturaustausch genannt, zunächst in historischen, ethnologischen, kunst- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten erscheint und zunehmend in Forschungsprojekten und in den Medien einer sich globalisierenden Welt Verwendung findet. Im Anschluss an die Arbeiten des britischen Kulturhistorikers Anthony Grafton (»Transmission of culture«) werden dabei Prozesse in den Blick genommen, in denen Kulturgüter, kulturelle Muster und Strömungen sowie die zugehörigen Verhaltensmuster (Habitus) aus einem kulturellen Zusammenhang in einen anderen übernommen beziehungsweise übertragen werden, wobei ähnlich wie bei Tradition nicht nur die Übernahme, sondern auch die produktive Aneignung, Um- und Neudefinition sowie die zugehörigen Rahmenbedingungen jeweiliger Übertragungen und Übernahmen eine Rolle spielen. Auch in den Übersetzungswissenschaften findet der Begriff Beachtung, insofern er die kulturellen und sozialen Zusammenhänge, in denen Übersetzungen stattfinden, und die von den Wörtern transportierten kulturellen Codierungen anspricht.Begriffe wie Kulturkontakt und Kulturberührung zielen stärker als Kulturtransfer auf die Einmaligkeit eines Zusammentreffens, dem aber, wie am Beispiel von Schiffsreisen, Entdeckungsfahrten oder der Kreuzzüge zu zeigen ist, durchaus bereits längerfristige Wirkungen und aktive Bezugnahmen zugeschrieben werden können. Der unspezifischer gebrauchte Begriff Kulturaustausch geht auf individuelle, zufällige und in der Regel symmetrisch gedachte Beziehungen aus. Demgegenüber stellt der Begriff Kulturtransfer eine eher systematische Sichtweise vor, die auf das mögliche Gefälle zwischen den beteiligten Kulturen ebenso aufmerksam macht wie auf die in den jeweiligen Kulturen vorhandenen gruppen-, schichten- oder sonstwie spezifische Umstände, unter denen Aufnahme, Auswahl, Weitergabe und Rezeption von kulturellen Mustern oder Güter stehen und die zudem sowohl die betreffenden Kulturgüter als auch die beteiligten Gruppen, Individuen und Zusammenhänge nicht unbeeinflusst lassen. Kulturtransfer erscheint so nicht nur als die Beschreibung von Weitergabeprozessen, sondern stellt die jeweils durch diesen Prozess hervorgebrachten Um- und Neubestimmungen dieser Muster sowie die damit verbundenen Lernprozesse in den beteiligten Kulturen heraus. Dafür kommen Fragen des politischen Lernens (»Amerikanisierung« der Bundesrep. Dtl. nach 1945) ebenso in Betracht wie die Erkundung der besonderen Bedeutung von Medien (z. B. Rundfunk, Film oder Internet, aber auch von Flugschriften) und nicht zuletzt die Bedeutung historischer Konzepte (z. B. Renaissance und Humanismus in Italien und Frankreich) oder kultureller Stile und Strömungen (z. B. Bauhaus in Lateinamerika, europäische Architektur in China).V. Rittner: Kulturkontakte u. soziales Lernen im MA. (1973);P. Ludes: K. u. transkulturelle Prozesse (1991);Sprachtransfer - K., hg. v. N. Salnikow (1995);H.-J. Lüsebrink u. R. Reichardt: »Kauft schöne Bilder, Kupferstiche. ..«. Illustrierte Flugblätter u. frz.-dt. K. 1600-1830 (1996);W. Schmale: Histor. Komparatistik u. K. (1998);K. im 16. Jahrhundert, hg. v. W. Schmale (2001).
Universal-Lexikon. 2012.